Schlimme Zeiten der erste Mantel – so beginnt der 1. Band

Heinrich Landolts erster Mantel

Ich wurde am 23. November 1629 auf dem Marktplatz von Vilshofen hingerichtet. Schlimme Zeiten? Dazu erzähle ich gleich mehr. Kuno von Erlach, der Statthalter des Burggrafen, verkündete persönlich das Urteil: „Der Bursche“, so las er mit dröhnender Stimme der Menge auf dem Marktplatz vor, „soll also ums Leben gebracht werden: Mit glühenden Zangen zwei Stücke aus seinem Leib gerissen, dann mit dem Schwert vom Leben zum Tod gerichtet und der Körper zu Asche verbrannt.“ So geschah es. Eigentlich sollte ich dankbar sein. Ich sei noch ein halbes Kind, entschied der Statthalter und begnadigte mich zum Tod durch das Schwert, anstatt mich bei lebendigem Leib zu verbrennen. Aber zu diesem Zeitpunkt war mir das längst egal.

Das Urteil hatte der Statthalter am Vorabend gefällt, kurz bevor die Abendglocken das Ende des letzten Tages vor meiner Hinrichtung einläuteten. Der Priester wollte meine Beichte hören, aber ich hatte mich bei der Folter so heiser geschrien, dass ich keinen Ton hervorbrachte. Den ganzen Tag über gellten meine Schreie durch das Steinverlies, so laut, dass sie dort vermutlich noch heute zu hören sind. Begonnen hatte es vor Sonnenaufgang am frühen Morgen. Der Statthalter und der Priester sahen zu, wie Hannes mich an den auf dem Rücken verschränkten Armen hochzog, bis die Gelenke krachten. Dann kam die ersehnte Ohnmacht. 

Ich hatte bereits gestanden. Nicht nur das, ich gestand alles, was man von mir hören wollte. Ich bin kein Held, bloß ein Fünfzehnjähriger mit schlaksigen Gliedern, braunem Haar und dem ersten Bartflaum, auf den ich furchtbar stolz bin. War. Aber nun hing ich nackt mit zerschlagenen Knochen an der Streckleiter und hoffte auf mein Ende. 

Ein Schwall kaltes Wasser weckte mich.

„Hast du Verkehr mit dem Teufel gehabt?“  

„Ja!“, brüllte ich, ohne nachzudenken.

Am ersten Tag, als Hannes mich ins Verlies geschleppt hatte, legte er mir die Werkzeuge seines Handwerks eins nach dem anderen vor und erklärte sie mir ausführlich. Mit Nägeln besetzte Peitschen, Zangen, um dem Opfer das Fleisch von den Knochen zu reißen, der Daumenstock, der einem die Daumen zu Mus zerdrückt, ein hölzerner Trichter zum Einflößen von Flüssigkeit, bis einem der Leib platzt, Spanische Stiefel zum Zerquetschen der Beine und Töpfe gefüllt mit Salz und Essig für die Wunden.

„Ich gestehe alles“, stammelte ich. 

„Ja, das wirst du.“ Hannes‘ Augen glänzten.

Er begann mit dem Daumenstock und drehte gemächlich die dicke Schraube enger, bis das Blut unter den Nägeln hervorschoss. Dabei wand ich mich vor Schmerzen wie ein Wurm an der Angel. Je fester Hannes die Schraube anzog, desto höher kreischte meine Stimme, was ihn sehr zu belustigen schien. Als Hannes von mir abließ, glaubte ich nicht, dass es noch schlimmer werden könnte. Aber am nächsten Tag legte er mir zuerst die Spanischen Stiefel an, die er mit solchem Genuss zuschraubte, dass beide Beine splitterten. 

Verkehr mit dem Teufel? Mit jedem Teufel in jeder Form. Ich faselte von Hexen mit ledernen Flügeln und unheiligen Lüsten, vom Prinzen der Dunkelheit mit Hufen, Hörnern und dem Gestank nach Schwefel, der uns seinen Hintern zur Anbetung hinhielt. Alles, um mir Hannes und seine Instrumente vom Leibe zu halten. 

Wieder schüttelte der Statthalter traurig den Kopf über solche Abgründe, während der Priester meinen sich windenden nackten Körper nicht aus den Augen ließ. Nur der Schreiber des Statthalters wandte sich ab. Er erbrach sich nochmals ausgiebig, nuschelte eine Entschuldigung und stippte die Feder ins Tintenfass. 

Ich kannte sie alle, praktisch von meinem ersten Atemzug an. Vater Berthold hatte mich und alle anderen in der Pfarrkirche Woche um Woche mit seinen Beschreibungen der Höllenqualen geängstigt. Seit ich denken konnte, schlug er mit schriller Stimme von der Kanzel aus auf uns arme Sünder ein und schilderte uns die Hölle so ausführlich, als ob er persönlich für die Qualen zuständig sei, was die meisten seiner Schäfchen für durchaus möglich hielten. Im Gegensatz zu ihm mochte jeder den Statthalter. Er gab uns Kindern Süßigkeiten, wenn wir am Heiligen Abend bei ihm vor dem Stadthaus Weihnachtslieder sangen. 

Und Hannes, nun, Hannes war eben Hannes. Vierschrötig, plump und mit einem schlaffen Mund, der ständig offen hing. Als Knirps hatte ich ihn ertappt, wie er auf dem Hof seiner Eltern einem lebenden Huhn die Federn ausriss. 

Wilhelm, der Schreiber, war ein Vetter meiner verstorbenen Mutter. Er hielt den schmalen, bleichen Kopf über sein Buch gebeugt, die Feder erwartungsvoll in seiner Hand. 

Aber der Statthalter schüttelte den Kopf. 

„Ich habe genug gehört“, sagte er zu Hannes, der enttäuscht die mit Nägeln beschlagene Rolle weglegte, die er als Nächstes hatte anwenden wollen. 

Am nächsten Morgen schleppten mich zwei Knechte zum Richtplatz, da ich auf meinen gebrochenen Beinen nicht mehr gehen konnte. Über Nacht hatte sich der Marktplatz in eine Richtstätte verwandelt. Eine gedeckte Tribüne stand für die Notabeln bereit, ein Richtblock wartete auf meinen Nacken und ein großer Stoß Holz würde meinen Leib zu Asche verbrennen. 

Die Knechte hatten mich unter der Achsel gepackt und schleiften mich zum Richtblock. Meine Füße schlugen im Takt mit den Schritten der Knechte gegen die Pflastersteine. Jeder Schlag fühlte sich an, als ob meine Beine erneut von Hannes mit der Brechstange zertrümmert würden. Ich wollte schreien, brachte aber nur ein klägliches Krächzen zustande. Die ganze Stadt hatte sich eingefunden. Frauen spuckten mich an, Männer ballten die Fäuste, Kinder bewarfen mich mit Kot und stinkendem Abfall. Viele lachten über meinen qualvollen Stolpergang. 

Oben auf der Richtstätte packten mich die Knechte fester und zogen meine Arme nach hinten. Gleichzeitig riss mir Hannes mit der glühenden Zange bedächtig aus Brust und Bauch zwei faustgroße Stücke Fleisch. Ich nahm das nur noch wie aus großer Ferne wahr, mit einem vagen Mitgefühl für die geschundene Kreatur, die ihren Mund zum Brüllen weiter als menschenmöglich aufriss, sehr zum Gaudi der Menge. Ich kam erst wieder zu mir, als einer der Knechte mir mit einem nassen Lappen ins Gesicht schlug. Sobald ich die Augen offen halten konnte, schleppten sie mich zum Holzblock. Der Scharfrichter in seinem roten Lederwams legte das Schwert zur Seite, packte meinen Schopf und zerrte meinen Kopf auf dem Block zurecht. Mein größtes Bedauern war, dass ich als Jungfrau sterben würde.

Dann ging alles sehr schnell. Der Schwarze Baron hatte recht gehabt. 

Ich war in Kriestorf aufgewachsen, gut zwei Wegstunden außerhalb der Stadttore von Vilshofen, an der Grenze von Bayern zu Böhmen. 

Mein Vater führte den großen Gasthof an der Straße ins Böhmerland. Salzsäumer stiegen bei uns ab und andere, die mit Prag Handel trieben. In steilen Lettern stand über dem Türsturz Gasthof Zum Goldenen Steigund das Wirtshausschild zeigte zwei mit Säcken beladene Pferde auf goldenem Grund. 

Pater Berthold hatte mich auf den Namen Jan Flensbeck getauft, nach meinem Vater, der den Gasthof für Statthalter Kuno von Erlach führte, dem der Hof und die Pferde und alles Land im Umkreis als Lehen gehörten. 

„Wir können uns glücklich nennen, so einem Herrn zu dienen“, betonte Vater bei jeder Gelegenheit. Kuno von Erlach war ein umgänglicher Mann, der seine Untertanen nicht bis aufs Blut auspresste. Mein Vater durfte sogar sein eigenes Bier brauen. 

Früher saßen wir oft am Feuer und schauten zufrieden auf die Reisenden, die ihren Haferbrei mit gepökeltem Schweinefleisch löffelten und das fette Weizenbier meines Vaters schlürften. Seit einiger Zeit aber blieb die Hälfte der Tische leer. Der stete Strom der Säumer versickerte zu einem Rinnsal. „Die Welt ist aus den Fugen geraten“, murrte mein Vater. Er wischte sich die Hände an einer Schürze ab, die schon lange keinen Waschtrog mehr gesehen hatte, und legte sein rundes, rotes Gesicht in Falten. Jenseits, im Königreich Böhmen, schnitten sich Protestanten und Katholiken gegenseitig die Hälse ab. Söldnerheere wuchsen wie giftige Pilze aus dem Boden und Vater fürchtete, der Krieg würde zu uns herüberschwappen. 

Viel wussten wir nicht über das, was auf der anderen Seite der Donau geschah oder dort, wo Pater Berthold den Antichrist vermutete, in der Pfalz oder in Brandenburg oder noch weiter weg, beim Schweden, der bestimmt mit dem Teufel im Bunde stand. Wir hörten, was die Leute munkelten und was die Flugblätter anprangerten. 

Ich konnte etwas lesen und schreiben, meine Mutter hatte es mir beigebracht, bevor sie am bösen Fieber starb, vor zwei traurigen Jahren. Fahrende Händler brachten die Blätter. Natürlich besaß ich die zwei Kreuzer nicht, die sie dafür verlangten, aber ich schaute ihnen über die Schulter, wenn sie ihre Ware anpriesen, obwohl es mir kalt den Rücken hinunterlief, wenn ich die Bilder betrachtete. Nur einmal kaufte Vater eines der Pamphlete. Es zeigte die aufgespießten Köpfe der protestantischen Rebellen auf der Zinne des Hradschin. Unser aller Kaiser Ferdinand hatte sie abschlagen lassen. Vater nagelte das Blatt an die Wand, als Zeichen dafür, was mit jenen geschah, die sich vom rechten Glauben abwandten, und als Beweis dafür, dass hier nur rechtgläubige Leute verkehrten. 

Manchmal schnappten wir einige Worte auf. Bei uns im Gasthof saßen Kuriere, die hastig ihr Abendbrot verzehrten und noch vor Tagesanbruch weiterritten. Oder aber sie flüsterten in einer Ecke und tauschten versiegelte Briefe aus. Offiziere lungerten herum, die Taschen voller Geld, mit dem sie rauflustige Bauernburschen in die Kriegsdienste locken wollten. Auf Geheiß des Statthalters verbot Vater ihnen, im Gasthof ihrem Gewerbe nachzugehen. Sie fluchten, fügten sich aber. Kuno von Erlach hielt seine schützende Hand über uns. Erst kürzlich verlängerte er Vaters Pacht um weitere fünf Jahre, ohne den Pachtzins zu erhöhen. 

„Eines Tages, wenn du den Kopf vor den richtigen Leuten beugst, wird all das dir gehören. Du kannst dem Herrn dafür danken.“

Ich wusste nicht, welchen Herrn er meinte, jenen aus Fleisch und Blut oder jenen im Himmel. Nicht dass es mich groß beschäftigte. Ich hatte Pläne. Ich wollte wissen, wohin die Donau floss und was sich hinter den Bergen verbarg. Ich wollte hinaus in die Welt, als Landsknecht vielleicht, um Städte und Mädchen zu erobern. Besonders Mädchen. 

Eine Backpfeife brachte mich zurück in die Gaststube mit ihren verrauchten Balken, den roh gezimmerten langen Tischen und Bänken und dem mit Stroh bedeckten Boden aus gestampftem Lehm. Das feuchtkalte Wetter drang durch alle Ritzen. Draußen bellten die Hunde voller Wut. Ein kalter Luftzug wirbelte die Glut im Kamin auf. Unter dem Türsturz konnte ich die Umrisse eines Mannes erkennen. Wasser tropfte auf die Schwelle und in der Wärme der Gaststube begann sein Mantel zu dampfen. 

„Hör auf zu träumen.“ Mein Vater knuffte mich nochmals. „An die Arbeit.“

Ich wollte an dem schwarzgekleideten Mann vorbeiwischen, um mich um sein Pferd zu kümmern und die Hunde zu beruhigen, aber er hielt mich am Kragen fest. 

„Hafer, den besten den du hast. Frisches Wasser. Und reib ihn gut ab, sonst bekommst du eine Abreibung von mir, die du nicht so leicht vergessen wirst.“ Ich hörte kaum zu. Alle führten sich so auf. Aber von seinem Gesicht konnte ich mich nicht losreißen. Dort, wo eigentlich ein Bart wachsen sollte, wucherte ein dichtes Netz von schwarzen Flecken. Tief wie Pockennarben eingegraben, verunstalteten Narben die rechte Gesichtshälfte von der Schläfe bis zur Wange. Obwohl er das Haar lang trug, konnte er das verstümmelte Ohr nicht verbergen. „Schwarzpulver“, behauptete mein Vater. „Es muss direkt in sein Gesicht explodiert sein.“ Er schauderte. Wir alle schauderten, nicht nur wegen der Narben. Über der verstümmelten Gesichtshälfte lagen die Augen in tiefen Höhlen. Aus ihnen funkelte eine kalte Glut, die direkt aus der Hölle stammen musste. 

Mit einer Kopfnuss, die noch lange in meinem Schädel dröhnte, setzte der Neuankömmling meiner Neugier ein Ende. Schnell nahm ich sein Pferd beim Zügel und führte es in den Stall. Ein schöner Hengst mit klugen, dunklen Augen. Ein Rappe, schwarz wie die Kleidung seines Herrn, mit einem Sattel aus schwarzem Leder mit Silberbeschlag. 

Ich balgte mich noch ein bisschen mit Fleck und Bleck und Meck, aber die Hunde hatten sich wieder beruhigt und unter einem Vordach vor dem Regen Schutz gesucht. Sie waren meine besten Freunde, meine einzigen Freunde, und um diese Jahreszeit, wo die Nächte die Zähne zum Klappern brachten, teilten wir uns eng aneinandergeschmiegt das Lager. Als ich in die Gaststube zurückkehrte, konnte ich den Fremden nicht mehr sehen. Er musste bereits seine Kammer bezogen haben.

Der Fremde blieb. „Ein Kurier“, meinte mein Vater. „Er wartet wohl auf jemanden.“ Vater klang zufrieden. Nur noch wenige Gäste machten bei uns Halt und jetzt, kurz vor Wintereinbruch, mussten wir sicherstellen, dass wir den Zins für unseren Herrn aufbringen konnten. Die Wirren im Nachbarland machten das zunehmend schwieriger. 

Eigentlich konnte ich mir darunter nicht viel vorstellen. Alles nahm doch seinen gewohnten Verlauf. Gewiss, manchmal tauchten Truppen auf und verlangten Quartier. Oder sie waren auf Fourage, pressten uns Nahrungsmittel ab und trieben den Bauern die Kühe aus dem Stall. Manchmal schlachtete eine Bande Gesetzloser einem unglücklichen Landwirt die Schweine und ihn gleich mit dazu. Trotzdem, unsere Näpfe blieben gefüllt, im Kamin hingen Würste und Speckseiten und mit der Ernte konnten wir zufrieden sein. Dem Land ging es wie mir. Hie und da ein paar Püffe, gelegentlich wurde man durchgewalkt, aber nichts Ernsthaftes störte den ruhigen Ablauf des Lebens. 

Bis jetzt. Der schwarzgekleidete Fremde brachte Unruhe in meinen Alltag. Statt den Stall auszumisten oder den Hof zu fegen, folgte ich ihm. Ich weiß nicht, ob er mich je bemerkte. Tagsüber streifte er auf seinem Rappen durch die Gegend. Meist ritt er allein über die Felder und schien sich zu langweilen. Knapp eine Woche nach seiner Ankunft beobachtete ich, wie er sich mit einem anderen Reiter traf. Die beiden standen unter einer breiten Linde. Der Reiter öffnete seinen Umhang und steckte dem Schwarzgekleideten eine Dokumentenrolle zu. Am meisten verblüffte mich, dass unter dem Umhang des Reiters die blaue Farbe der Schweden aufblitzte. Ein Schwede! Aber dann redete ich mir ein, dass das nichts zu bedeuten hätte. Ich rechnete schon damit, der Fremde würde abreisen, aber er blieb. 

Abends saß er jeweils am besten Platz beim Kamin und starrte finster vor sich hin. Trotz des Feuers behielt er seinen Mantel mit Kapuze an, wohl um sein verunstaltetes Gesicht zu verbergen. Er aß wenig und trank noch weniger, und wenn ihn jemand zum Würfelspiel aufforderte, genügte ein Blick und man ließ ihn in Ruhe. Stets hatte er seine schwarze Satteltasche bei sich. Wenn er nach einem Ausritt bei uns eintraf, warf er mir wortlos die Zügel zu. Ich wusste immer, wenn er sich dem Gasthof näherte. Ich brauchte bloß auf die Hunde zu hören, die unruhig knurrten und einen Bogen um den Schwarzen machten, wie wir ihn bald hinter seinem Rücken nannten. Die Pferde im Hof scheuten, wenn er auftauchte, und selbst die Hühner stoben davon. 

Auch die Dienstmägde liefen von ihm weg. Sarah, die Köchin, schrie auf, wenn sie ihn sah, und bekreuzigte sich mit einem lauten „Jesses Herrgott Maria.“ Sie war sonst nicht besonders schreckhaft. Derb und fleischig, mit dunklem Haar und einem gefürchteten Maulwerk, hatte sie seit dem Tod meiner Mutter das Heft in die Hand genommen. In letzter Zeit betrat sie ganz offen die Bettkammer meines Vaters, und die Mägde tratschten, nach Ablauf der Trauerfrist gebe es eine Hochzeit. Vor dem Schwarzen aber hatte Sarah Angst. 

Wir waren unser elf auf dem Gasthof. Die Köchin mit ihren Gehilfinnen, die Mägde für Gastwirtschaft und Haushalt sowie zwei Knechte, mein Vater und ich. 

Die Mägde hatten wohl beim Messegang geplappert. Eines Abends erschien Pater Berthold und setzte sich unaufgefordert zum Schwarzen. Ich weiß nicht, was sie miteinander gesprochen haben. Der Pater leerte zwei Krüge von unserem Bier, für das er wie gewohnt nicht bezahlte, machte sich über eine gewaltige Schlachtplatte her wie der Wüstling über die Jungfrau, ebenfalls auf Vaters Kosten, und schüttelte dann dem Schwarzen die Hand. Mit einem gemurmelten „Vergelt’s Gott“ gegenüber meinem Vater zog er ab. 

„Na, da kann er ja bei der nächsten Predigt das Neueste aus der Hölle berichten, der Depp“, schimpfte Sarah, bevor sie mir auf die Finger klopfte, die ich in eine Schüssel voller Sahne stecken wollte. 

„Malchus von Gallhart heißt er und stammt aus der Walachei, ein Kurier im Dienste des Kaisers“, erklärte mein Vater. „Er hat dem Herrn von Erlach einen Brief mit Friedrichs Siegel gezeigt“, versicherte er jedem, der sich über den Schwarzen erkundigte. 

Vom Kaiser! Ich staunte, sprachlos vor Bewunderung. An den fremden Schweden wollte ich lieber nicht denken. Von nun an blieb er für mich der Schwarze Baron, obwohl er bestimmt kein echter Freiherr war, sondern höchstens dem niederen Adel angehörte, falls überhaupt. 

Ich wusste nicht, ob ich mich vor ihm fürchten sollte oder ob ich wie er auf einem Rappen durch die Gegend reiten wollte. Geheimnisumwittert. Ein Leben voller Abenteuer, nicht eines mit Backpfeifen vom Vater, Klapsen von Sarah und dem täglichen Ausmisten des Pferdestalls. 

Dort schlief ich, auf einem Strohlager mit einer Decke, die fast noch scheußlicher kratzte als das Stroh. Eines Nachts fuhr ich mit einem Schrei auf. Mir war, als würde eine Faust meinen Kopf wie ein Ei aufschlagen und direkt in mein Gehirn greifen. Ich presste die Hände gegen die Schläfen und der Druck ließ nach. Plötzlich aber saß ich nicht mehr im Stroh, sondern schaute vom Dach auf mich hinunter, wie ich im Stroh kauerte und mir den Schädel hielt. Ich konnte es nicht genau erkennen, aber ab und zu glitzerte etwas wie ein dünnes, silbernes Band, das mich mit der Gestalt am Boden verband. 

Voller Panik blickte ich um mich, und zu meinem Entsetzen schwebte neben mir ein Schatten wie eine riesige Fledermaus. Ich wusste ohne Zweifel, dass es sich um den Schwarzen Baron handelte. Er schien belustigt zu sein. Bevor ich michs versah, saß ich wieder im Stroh, wobei meine Hände immer noch den Kopf umklammerten. Dabei musste ich mich verletzt haben. Blut tropfte aus meiner Nase. 

Vom Fliegen träumte ich früher oft. Mutter tröstete mich, obwohl sie mich dabei ein wenig seltsam ansah. „Träume sind Schäume“, meinte sie und ließ es dabei bewenden. 

Aber einen Traum wie dieser? Falls es denn ein Traum war. Es dauerte lange, bis ich wieder einschlafen konnte. Am nächsten Morgen rüttelte mich mein Vater wie immer wach. „Mach schon“, brummelte er und strich mir übers Haar. Ich trödelte, wie es meine Art war, brachte in der Küche Sarah dazu, mir eine zweite Schale Milch zu geben und strengte mich an, nicht an die Nacht zu denken. Als ich eben die Pferde tränken wollte, packte mich Vater am Arm, schob mich aus dem Stall und führte mich in der Gaststube vor den Tisch des Schwarzen Barons. „Da ist er.“

Der Schwarze schaute auf. „Du kennst den Weg zum Hufschmied?“ 

Ich schüttelte heftig den Kopf, aber mein Vater gab mir einen Puff. „Selbstverständlich kennt er den Weg, Herr von Gallhart.“ Ich wunderte mich, wie leicht Vater der Name über die Lippen ging. 

„Mein Pferd lahmt. Mach es bereit“, befahl der Schwarze Baron kurz angebunden.

Was blieb mir anderes übrig? Natürlich würde er mich abschlachten, sobald wir uns außerhalb der Sichtweite des Gasthofes befanden. Aber nichts dergleichen geschah. Er warf mir einen Groschen zu, so wie man einem Bettler ein Almosen zuwirft, als ich mit dem Rappen und einer alten Stute als Ersatzpferd zu ihm kam. Die Stute scheute, als er aufsaß. Ich nahm die Zügel seines Rappen und führte das Pferd auf die Landstraße. Es lahmte tatsächlich. Mit dem hinkenden Pferd brauchten wir bis zum Hufschmied dreimal länger als gewohnt. 

Die Schmiede lag auf der anderen Seite des Dorfes. Ein windschiefes Fachwerkhaus, an das sich ein mit Zeltbahnen bedeckter Vorbau lehnte. Dort beschlug der Schmied die Pferde. Wie alles im Dorf gehörte auch die Schmiede dem Statthalter, der sie verpachtete und im Gegenzug dazu befahl, dass jeder zu diesem Schmied gehen musste. Albert Faber hieß er, aber alle nannten ihn Meister Schmied. Ein ungewaschener Klotz, beinahe so breit wie lang, mit unsteten Augen, strähnigem Haar, einem genauso verfilzten Bart und mächtigen Fäusten. Niemand mochte ihn, aber wer ins Nachbardorf zum nächsten Schmied ritt, bekam es mit dem Statthalter zu tun. 

Meister Schmied knurrte misstrauisch, als er mich sah, verzog aber sein rußgeschwärztes Gesicht zu einem devoten Grinsen, als der Schwarze Baron vor ihn trat. Dann schlug er nach Hubertus, den alle nur Hubl riefen, seinem ebenso rußgeschwärzten Sohn. Unter dem zerschlissenen Hemd konnte ich die Striemen von den letzten Prügeln sehen. Hastig griff Hubl nach der Kette des großen, ledernen Blasebalgs und die Glut in der Esse flammte auf.

Der Schwarze Baron setzte sich auf eine gemauerte Bank und befahl mich neben sich. Gemeinsam sahen wir zu, wie Hubl den Blasebalg bearbeitete. Seinem Vater ging es nicht schnell genug, aber Hubl ließ die Püffe stoisch über sich ergehen. Er musste halb verhungert sein. Wenn wir nebeneinanderstanden, reichte er mir gerade bis zur Nase, dabei war er nur ein Jahr jünger als ich. Ich fürchtete, er würde die Plackerei am Blasebalg nicht durchstehen. Jeder wusste, dass er ein wenig langsam im Kopf war. Sonntag für Sonntag musste er vor den Priester treten, weil er sich versündigt hatte, bei der Predigt einzuschlafen. Hubl weinte jeweils still und ergeben vor sich hin, während Pater Berthold ihm den dünnen Hintern versohlte. 

„Merk ihn dir“, sagte der Schwarze Baron schroff. 

„Hubl?“, fragte ich verständnislos.

„Wir behalten unseren ersten Namen.“

Jetzt verstand ich gar nichts mehr. 

Grob packte der Schwarze Baron mich am Kinn. Ich konnte sein heiseres Flüstern kaum verstehen. „Hast du nicht vom Dachboden auf dich runtergeschaut? Du kannst deinen Körper verlassen. Du kannst dir einen neuen suchen. So.“ 

Mein Kopf platzte wie eine reife Pflaume, als eine unsichtbare Faust sich in mein Gehirn wühlte. Beinahe sofort schwebte ich unter dem schmutzigen Zeltdach, während unter mir der Schwarzen Baron mein Kinn umklammert hielt, was überhaupt keinen Sinn ergab. Ich konnte noch den silbernen Spinnenfaden erkennen, der zwischen meinem Körper und mir unter dem Zeltdach zitterte, als die unsichtbare Faust mich auf Hubl zu schleuderte. Unvermittelt öffnete ich fremde Augen. 

Einen Herzschlag lang begriff ich nicht, was mit mir geschah. Ich musste gestürzt sein, da ich nur einen rußschwarzen Boden erkennen konnte. Als ich den Kopf drehte, der sich unvertraut anfühlte, sah ich den Schmied. Er stierte auf mich, Jan, der wie vom Schlag getroffen vor der Bank lag. Ich konnte einfach nicht verstehen, was ich dort drüben vor den Füßen des Barons zu suchen hatte, obwohl ich mich doch hier, gegenüber der Bank, auf dem Boden befand. Und warum hatte ich rußverschmierte Hände? Der Schwarze Baron saß ruhig an seinem Platz. Er schien zu dösen. 

Dann begriff ich. 

Hubl wehrte sich wie ein Ertrinkender dagegen, dass ich sein Wesen überflutete. Ich spürte sein Grauen, aber ich fühlte auch eine tiefe Mattigkeit. Der ständige Hunger und die Schläge hatten ihn stumpf werden lassen. Einen Lidschlag lang konnte ich mich in seiner Seele umsehen. Ein ungeformtes Etwas, das meinem Ansturm nicht standhalten konnte. Dann fiel ich wie ein Stein in ein schwarzes Loch.

Ein brennender Schmerz riss mich zurück in die Welt. Der Schmied stand über mir und hielt mir ein glühendes Eisen unter die Nase. 

„Hilft allemal“, knurrte er und trat an den Amboss. 

Prompt bildete sich eine Brandblase auf meiner Oberlippe. Behutsam drückte ich daran herum. Der Schwarze Baron schaute mir zu. „Du wirst dich daran gewöhnen müssen.“ Ich hatte den Eindruck, dass er damit nicht die Brandblase meinte. Und noch einen Eindruck gewann ich. Dass der Schwarze Baron mich mit neuen Augen betrachtete. So wie der Bauer einen Baum ansieht, der wider Erwarten die schönsten Früchte trägt. Bevor ich darüber ins Grübeln geraten konnte, nestelte der Schwarze Baron ein paar Kreuzer aus seinem Gürtel. „Geh zum Wirtshaus und bring mir einen Krug Bier.“ Er sah mich scharf an. „Und wisch dir das Blut ab.“ Aus meiner Nase tropfte wieder Blut. Ich hatte doch sonst nie Nasenbluten.

Beim Herausgehen wagte ich es, einen Blick auf Hubl zu werfen. Er trug eine ähnliche Brandblase auf der Oberlippe. Meinen Augen wich er angstvoll aus. 

Froh darüber, von ihm wegzukommen, rannte ich zur Schenke beim Dorfbrunnen. Die Stube war niedriger als in unserem Gasthaus, und die von der Feuerstelle rußgeschwärzten Balken kamen mir düsterer vor. Auf dem Boden vermischten sich Bierpfützen mit den Scherben zerschlagener Bierkrüge und zwei Hunde balgten sich um einen Knochen. Es stank nach nasser Wolle und saurem Schweiß. 

Der Wirt, Meister Wettich, hockte neben der Feuerstelle und stierte mich aus seinem einen Auge an. Die vernarbte Höhle des anderen verdeckte er mit einem schmutzigen Lappen. Im vorigen Frühjahr hatte ihm ein Söldner die mit Eisen gepanzerte Faust ins Gesicht geschlagen, als Meister Wettich Bezahlung für das Bier forderte. Ich gab die Münzen einer Schankmagd mit schmalem Mund und schlechten Zähnen. Sie ging erst zu Meister Wettich, der aufreizend langsam die Münzen prüfte, und brachte mir dann einen tönernen Krug und das Wechselgeld. Der Wirt braute ein Bier, von dem die Männer behaupteten, es sei doppelt so stark wie das von meinem Vater. 

Meister Wettich krümmte einen Finger. Als ich zu ihm trat, blickte er lange auf die Brandblase auf meiner Oberlippe. „Der Junge mag heiße Küsse“, spottete er. Geziert spitzte er die dicken Lippen und wollte nach der Schankmagd greifen, aber die entzog sich ihm geschickt. Offensichtlich kannte sie ihren Meister. Der funkelte mich an. „Verschwinde, aber ich will den Krug wiederhaben, sonst hole ich mir bei deinem Vater Ersatz mit Zinsen.“ 

Kaum hatte ich die Türe hinter mir geschlossen, blies ich den Schaum zur Seite und nahm einen vorsichtigen Schluck. Sauer, dachte ich, ungewohnt. Das Bier brannte auf meiner Wunde. 

Aber der Schwarze Baron trank es in gierigen Schlucken. Das Wechselgeld winkte er ungeduldig weg. Eine Weile lang schauten wir schweigend dem Schmied bei der Arbeit zu. Vater hatte für den Schwarzen Baron eine Brotzeit eingepackt, die ich ihm jetzt reichte. Er wickelte das Tuch auf und verzehrte lustlos ein wenig Brot und Käse. Mit gerümpfter Nase schob er mir die Reste zu, Brot und einen ansehnlichen Brocken Käse, der ihm wohl nicht schmeckte. 

Hubl hinter seinem Blasebalg beobachtete den Schwarzen Baron mit einem solchen Verlangen beim Essen, dass ich beschloss, etwas zu unternehmen. Seinen Hunger hatte ich ja wie am eigenen Leib gespürt. Außerdem plagte mich ein schlechtes Gewissen. Zuerst erstarrte Hubl, als ich mich zu ihm setzte, aber dann griff er hastig zu, als ich Brot und Käse mit ihm zu teilen begann. 

„Ich weiß nicht, Jan“, sagte der Schwarze Baron mit lauter Stimme, als würde er über das Wetter plaudern. „Aber den Körper verlassen? Wie ein Vogel durch die Gegend fliegen? Das wird dir keiner glauben.“ Gelassen stocherte er mit einem Strohhalm in seinen Zähnen. Verdutzt vergaß Hubl zu kauen, und der Schmied hielt regungslos die Zange mit dem Hufeisen. Erschrocken fuhr ich zusammen. Wusste der Baron nicht, wie gefährlich so etwas sein konnten? Über solche Dinge sprach man höchstens im Verborgenen, aber nie vor allen Leuten. 

 „Ach so“, sagte er bloß und stocherte weiterhin in den Zähnen. Hubl schloss den offenen Mund und der Schmied tauchte das Hufeisen in den Wassertrog. 

Gleich danach klemmte sich der Schmied den linken Vorderhuf des Pferdes zwischen die Knie und hämmerte den ersten Nagel ein. Einen Augenblick später schlug der Rappe ungeduldig mit seinem neuen Hufeisen auf den Boden, um sich daran zu gewöhnen.

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