Schlimme Zeiten – Der englische Mantel – So beginnt der 2. Band:

Heinrich Landolts zweiter Roman

Zuerst muss ich etwas klarstellen. Der Roman Schlimme Zeiten 2? Der fängt mit meinem Namen an. Mein Name ist Jan. Ich bin kein netter Mensch, auch kein besonders ehrlicher. Wer mir über den Weg läuft, hält mich für kalt und abweisend. Meinen Heiligenschein habe ich längst verpfändet. Meine wenigen Freunde halten mich für mundfaul und verstockt. Im Geheimen wohl auch für nachtragend und auf eine Weise seltsam, die sie sich nicht erklären können. Einfach seltsam und anders.
Wenn du etwas über einen liebenswerten 15-Jährigen lesen willst, dann bist du hier falsch. Leg das Buch zur Seite und verschwinde.
Bis du noch da? Dann erzähle ich dir meine Geschichte. Sie ist wahr, größtenteils wenigstens. Die Geschichte beginnt mit dem Tod, meinem Tod. Schon wieder.

Grob zwängte ich mich durchs Gedränge. Lastenträger schleppten Kisten, Passagiere strebten zu den Eisenbahn-Waggons oder folgten Pagen ins Innere des Parkeston Hotels, das gleich neben den Gleisen stand. Matronen kreischten ohne ersichtlichen Grund und hochfahrende Herren feilschten mit Gepäckträgern um jeden Penny. Fliegende Händler boten heiße Kartoffeln oder gewürzte Seeschnecken an. Jongleure ließen ihre Bälle durch die Luft wirbeln. Ein Zauberer im zerschlissenen Frack zog Geldstücke aus dem Ohr eines Knaben. Laut schimpfte er der Mutter hinterher, die ihren Dreikäsehoch am Arm packte und grußlos im Hotel verschwand. Mehrere aufgeputzte Damen blinzelten älteren Herren zu. Eine weinende Frau händigte ein Bündel an ein altes Weib mit harten Augen aus. Das Bündel schrie. Ein Baby.
Überall wuselten halbwüchsige Bengel durch das Treiben, und ich hielt die eine Hand fest über meiner Börse und umklammerte mit der anderen die Reisetasche. Der Zug nach London dampfte und stampfte, doch von Zöpfchen keine Spur.
Niedergeschlagen schaute ich mich um. Dann sah ich sie aus nächster Nähe. Direkt neben mir rasselte eine Kutsche vorbei. Zöpfchen saß hinten im Freien auf dem Rücksitz, zusammen mit einer anderen Bediensteten, die verdrießlich ihren Schmollmund verzog. Zöpfchen hüllte sich, so gut es ging, in einen Mantel mit Kapuze ein. Genau wie meiner hielt auch der ihre die Nässe nicht ab. Ihr Gesicht glühte vom Fieber.
Nachdem ich ihr quer durch Deutschland bis nach England gefolgt war, wollte ich sie nicht gleich bei meiner Ankunft wieder verlieren. Ungeduldig fragte ich Umstehende nach dem Ziel der Kutsche, aber ich konnte kein Englisch und niemand verstand mein Deutsch. Was blieb mir anderes übrig? Ich packte meine Tasche und rannte der Karosse hinterher.
Schon nach hundert Schritten löste sich das Gewühl auf. Ich schrie und schrie. Zöpfchen konnte oder wollte mich nicht hören. Die gepflasterte Straße verwandelte sich in regennassen Matsch aus Schlick und Pferdedung. Nur wenige Gasleuchten zeigten den Weg. Dennoch nahm die Kutsche Fahrt auf. Auf diese Weise würde ich sie nie einholen. Die Straße schwang sich in einem Bogen um einen verwinkelte Teil der Hafenstadt voller Kanäle und Warenspeicher. Kurz entschlossen rannte ich das Gewirr der Gassen, in der Hoffnung, so eine Abkürzung zur Hauptstraße zu finden. Auf eine dümmere Idee hätte ich nicht kommen können.
Die Tage auf dem Hintern im gut geheizten Kontor machten sich bemerkbar. Keuchend stellte ich die Reisetasche auf den Boden und setzte mich darauf. Der Dauerregen brachte die offenen Abwasserkanäle zum Überfließen und Unrat verbreitete sich über die ganze Gasse. Es stank nach fauligen Algen, Brackwasser und übervollen Latrinen. Im Dämmerlicht konnte ich nicht viel erkennen. Ein Wirrwarr von Lagerhallen und Schuppen uferte zum Meer hin aus. Gegenüber ragten die Umrisse baufälliger Wohnhäuser auf. Mühsam reckten sie sich nach oben und sanken dann erschöpft gegeneinander, sodass die Bewohner der oberen Stockwerke sich über die Gasse hinweg die Hände schütteln konnten.
Sitzen bleiben durfte ich nicht. Also rappelte ich mich auf und lief weiter. Hier gab es noch weniger Gaslaternen und ich stolperte ziellos durch das Halbdunkel. Ab und zu huschten Schatten vorbei und hinter den Lagerhallen gurgelte das Wasser.
Gleich nach der nächsten Biegung traf ich auf eine Karre, die unter einem Gaslicht stand. Darüber baumelte ein Schild mit dem verblassten Abbild eines fetten Zechers, der einen Humpen in Händen hielt. Zwei Gäule, die vor den Karren gespannt waren, steckten die Mäuler in ihre Hafersäcke und kauten regelmäßig wie ein Uhrwerk. Allzu oft bot sich ihnen die Gelegenheit dazu wohl nicht, denn ich konnte die vorstehenden Rippen zählen. Auf der Karre kauerte ein knappes Dutzend Knaben, wohl zwischen elf und fünfzehn Jahren. Sie hockten eng beieinander unter einigen Fetzen von gewachster Leinwand, die sie kaum vor dem Regen schützten. Auch ihre Rippen konnte ich zählen. Auch sie kauten. In ihrem Fall an Brocken von aufgeweichtem Brot. Der Fuhrmann saß bestimmt in der warmen Kneipe bei Braten und Bier. Durchnässt und durchgefroren schmiegten sich die Jungen eng aneinander. Sie schienen viel zu erschöpft zu sein, um mich wahrzunehmen. Nur einer blickte mir mit blödem Gesichtsausdruck und halb offenem Mund nach. Ich eilte weiter und die Karre blieb hinter mir zurück wie ein böser Traum.
Zöpfchen würde ich so nie einholen. Ich musste zurück zum Bahnsteig. Unterdessen hatte ich mich völlig verlaufen. Wieder huschten Schatten vorbei. Diesmal hörte ich Schritte. Und dann standen drei Männer vor mir. Ihre Kleidung strotzte vor Schmutz, genauso wie ihre Gesichter. Die drei hielten Knüppel in den Händen. Der Anführer raunzte etwas.
„Ich spreche kein Englisch“, sagte ich und packte meine Tasche fester. Er schrie lauter, als ob ich ihn dadurch besser verstehen würde. Entschuldigend schüttelte ich den Kopf und sah mich nach einem Fluchtweg um. Das hätte ich früher tun sollen. Ein vierter Mann packte mich von hinten. Er riss meinen Kopf zurück, hielt mir mit der einen Pranke den Mund zu und setzte mit der anderen ein Messer an.
Jemandem die Kehle durchzuschneiden, ist kein Kinderspiel. Mein Mörder trieb die Klinge links in den Hals und zog sie mit Mühe nach rechts, wobei er sein Messer wie eine Säge bewegen musste. Verzweifelt strampelte ich. „Hold still“, brummelte er beinahe freundlich, „you’ll just make it worse.“ Später wurde mir klar, was er damit sagen wollte. Ich solle stillhalten, sonst würde es nur noch schlimmer werden. Noch schlimmer? Der Arsch schnitt mir die Kehle durch! Deutlich konnte ich sehen, wie mein Blut über seine schmutzigen Finger schoss, die den immer glitschigeren Messergriff umklammerten.
Dann löste ich mich von meinem Körper und schwebte nach oben. Von dort aus sah ich, wie der Mörder mich zu Boden gleiten ließ. Ich zuckte noch im Todeskampf. Er seinerseits wischte sich die Hände an den Hosen ab. Dann kam der Wind, um mich fortzutreiben.

Ich bin ein Springer. Bei uns Springern ist es so, dass wir Haken setzen. Wir lesen uns Körper aus, in die wir im Notfall schlüpfen können. Ohne sie sind wir so sterblich wie jeder andere. Wir ziehen von einem Körper in den nächsten. Wobei wir vorsichtig sein müssen. Fast nie läuft das ohne Gegenwehr ab. Wenn ich in jemanden fahre, beginnt ein Kampf auf Leben und Tod. Für mein Opfer fühlt es sich an, als ob es ersticke.
Doch der Reihe nach. Du musst dir das so vorstellen: Ich werfe mich auf deinen Schädel, der wie eine reife Frucht platzt, und senke mich in dein Gehirn. Dir kommt es vor wie eine Flut aus siedend heißem Öl. Mein ganzes Wesen, all meine Erinnerungen und Wünsche, meine Wut und Gier überschwemmen dich. Mit aller Gewalt stoße ich dich nach unten, bis du im Sumpf deiner Seele ersäufst. Dann habe ich gewonnen. Du gehst unter. Nicht ganz. Wie Fetzen schwimmen Erinnerungen in dir herum. Es sind jetzt meine Erinnerungen.
Es gelingt nicht jedes Mal und nicht bei jedem. Je gefestigter ein Opfer ist, desto schwieriger wird es. In diesem Kampf gibt es nur einen Sieger, mich. Wenn ich versage, gehen wir beide unter. Bist du zu stark, dann stecke ich in dir fest und wir verlieren zusammen den Verstand. In jedem Irrenhaus zetern gescheiterte Springer. Darum wählen wir ungefestigte, unfertige Menschen, die wenig Widerstand leisten. Dumpf und träge ist gut für uns. Schwach muss der neue Mantel sein, unsicher und ungeformt. Schau in den Spiegel. Genau wie du.
Mit einem Haken markieren wir Springer unsere Fluchtmöglichkeiten. Wenn ich ein Opfer auswähle, spürt es das kaum. Doch der Haken steckt, und ich fahre auf diese Weise übergangslos in einen frischen Mantel, wenn ich zu Tode komme oder in höchster Not meinen Körper verlassen muss. Mein Geist braucht dann schlagartig ein neues Zuhause. Um auf Nummer sicher zu gehen, setzten wir Springer mehrere Haken. In welchen Körper wir dann fahren, lässt sich nur schwer steuern. Das erwies sich nun als riesiger Nachteil.
Alle, in denen meine Haken steckten, lebten in Deutschland. Das ging nicht. Ich musste hierbleiben. Ich musste zu Zöpfchen, und dafür brauchte ich einen englischen Mantel. Mir blieb nur der Bruchteil eines Herzschlags, sonst würde ich in einem falschen Körper enden oder konnte überhaupt keinen Körper finden. Was dann geschieht, weiß niemand mit Sicherheit. Wenn ich aufsteige, treffe ich regelmäßig schemenhafte Wesen, die an mir vorübergleiten. Vielleicht sind es die unerlösten Seelen von Springern, die ohne neue Hülle umherirren müssen.
Immer schneller trieb mich der Wirbelwind davon. Ich erhaschte gerade noch einen Blick auf die Karre. Gleichzeitig fiel mir der Junge ein. Sein stierer Blick und der halb offene Mund. Verzweifelt stemmte ich mich gegen den Wind und drängte nach unten, zu dem Jungen. Mit aller Wucht fiel ich hin. Mein Gesicht klatschte auf nasses Holz und jemand schrie: „Goddamned!“
Geschafft.
Augenblicklich begannen die Krämpfe.
Ich strampelte wie ein Gehenkter am Ende des Stricks. Oder besser gesagt, Krämpfe schüttelten mein neues Ich. Meine neuen Arme und Beine ruderten wild umher. Der stumpfsinnige Bursche stellte sich als nicht ganz so stumpf heraus. Er wehrte sich in wilder Panik. Seine Glieder zuckten, hin und her gerissen zwischen ihrem alten Herrn und mir, dem neuen. Ich sank mit dem ganzen Gewicht meiner Leben in die trübe Masse seines Geistes. Noch wollten mir seine Glieder nicht gehorchen. Noch wehrte er sich. Lange hielt er nicht durch und schließlich löste er sich in mir auf.
Keuchend blieb ich liegen. Gelegentlich schüttelte mich noch ein Krampf, aber der neue Körper gehörte endgültig mir. Den stumpfsinnigen Burschen gab es nicht mehr. So wie eine Spinne ihre Beute auflöst, bevor sie mit der Mahlzeit beginnt, löste ich mein Opfer auf, um es dann in mich aufzunehmen. Es würde auf mich abfärben. Schwach, aber immerhin. Teile seines Wesens mischten sich mit meinem Wesen. Jedes neue Opfer hinterließ seine Spuren.
Andrew hieß er. Nicht dass ich den Namen benutzen würde. Vor langer Zeit hat mir jemand eingeschärft, dass solche wie wir unseren ersten Namen behalten. Ich heiße Jan. So habe ich schon immer geheißen und so werde ich in alle Zukunft heißen.
Vor Erschöpfung war mir speiübel. Die anderen Knaben drängten so weit weg von mir wie möglich. Einer stieß mich mit dem Fuß an, um zu sehen, ob ich noch am Leben sei. Ja, ich lebe. Andrew ist gestorben.
Am liebsten hätte ich um mich geschlagen. Eine unbändige Wut packte mich. Schon wieder eine neue Hülle, die ich nicht wollte. Schon wieder ein schlecht sitzender Mantel. Schon wieder wachte ich als Junge auf. Das wollte ich auf keinen Fall. Schon gar nicht im Körper eines Tölpels. Ich sehnte mich nach meinem früheren Leben. An die ruhigen Tage im Lagerschuppen bei meinen Kräutern. Aus und vorbei. Für die nächsten Jahre würde ich mich als Halbwüchsiger durchs Leben quälen müssen. Als ein Bursche, den niemand ernst nahm. Nicht zum ersten Mal verfluchte ich Zöpfchen, die mich nach England gezwungen hatte.
Erst jetzt fiel mir auf, wie die Pferde scheuten.
Zu meinem großen Leidwesen mögen Tiere mich nicht. Genauer gesagt, sie spüren, dass ich anders bin. Einige greifen an, andere kuschen. Alle meiden mich. Der Fuhrmann, der sich eben gut gestärkt von Bier und Braten auf dem Sitz niederließ, griff zur Peitsche und hieb zu, bis die Tiere zitternd ruhig standen. Dann zog er ihnen noch eins über und die Gäule setzten sich in Bewegung. Die Knaben drängten sich aneinander. Nur mit mir wollten sie nichts zu tun haben. Mir egal. Fahrt zur Hölle. Lasst mich in Ruhe. Ich will meinen Frieden haben.
Davon konnte keine Rede sein.
Vorläufig blieb ich einfach liegen und überlegte, was schiefgelaufen war.
Ich weiß nicht, was du von solchen wie mir gehört hast. Es gibt nur wenige von uns. Den meisten hat man die Gabe in die Wiege gelegt. Einige können das Springen lernen. Zöpfchen gehört dazu. Dass es nicht mehr von uns gibt, erstaunt mich stets von Neuem. Alle besitzen diese Fähigkeit. Zumindest Spuren davon. Fast jeder kann sich von seinem Körper lösen. Warum, weiß niemand. Ein Gelehrter, den ich später kennenlernen sollte, schwafelte von Astralreisen und Ektoplasma. Aber er schwafelte immerzu von Sachen, die er nicht verstand. Eigentlich ist es ganz einfach. Du kannst es selber versuchen.
Leg dich bequem hin. Schließ die Augen. Lass einfach die Bilder und Gedankenfetzen durch deinen Kopf strömen, beachte sie nicht, sondern warte, bis du an die Grenze zum Schlaf kommst. Du darfst nicht einschlafen. Wobei es schwierig ist, zwischen Schlaf und dem Zustand zu unterscheiden, bei dem du dich vom Körper lösen kannst. Bald spürst du ein leichtes Kribbeln. Am Fuß, am Kopf, an den Fingerspitzen. Halte das Kribbeln in deinen Gedanken fest, so wie du den Zipfel einer Decke festhältst. Ziehe diese Decke behutsam über dich.
Es klappt nicht beim ersten Mal, nicht beim zehnten Mal, vielleicht ein ganz klein wenig beim hundertsten Mal. Bei mir ist es spontan aufgetreten. Andere haben weniger Glück. Zöpfchen hat mir erzählt, dass sie lange warten musste.
Eines Nachts sank ihr Arm durch die Bettstatt auf den Boden. Jedenfalls kam es ihr so vor. Während ihr Geisterarm widerstandslos durch die Bettstatt drang, spürte sie jeden Strohhalm im Strohsack, spürte das Holz der Bettstatt, das sich trocken anfühlte, und strich dann mit unwirklichen Fingern über den staubbedeckten Steinboden. „Ich muss unbedingt unter dem Bett wischen“, schoss ihr durch den Kopf. Zugleich packte sie eine tiefe Angst. Was, wenn mein Arm nicht mehr zurückfindet? Was, wenn ich verrückt werde? Alles Unsinn, mehr oder weniger. Fröstelnd blieb sie liegen. Ihr Arm fühlte sich längst wieder ganz an. Von einem Geisterarm keine Spur.
Wenn dir der erste Schritt gelingt, dann sind die nächsten Schritte einfacher. Mehr und mehr lernst du, dich von deinem Körper zu lösen, bis du auf einmal an der Decke schwebst und auf dich hinunterschaust. Sofort wird dich das Grauen packen. Viel schlimmer als bei den ersten Versuchen. Es ist die Angst vor der Auflösung, vor dem Verlust des Körpers, vor dem Tod. Ein Entsetzen, das uns alle gefangen hält. Es wird dich nie verlassen.
Deshalb bleiben die ersten Versuche kurz. Das Grauen wirft dich jedes Mal in deine fleischliche Hülle zurück. Sobald du es wagst, länger zu schweben, bemerkst du ein seidendünnes, silbernes Band, das dich mit deinem Körper verbindet. Ohne dieses Band bist du verloren. Du stirbst oder irrst auf alle Ewigkeit als unerlöster Nebel durch den Äther.
Aufsteigen ist gut und recht. Wir Springer gehen weiter, viel weiter. Wir nutzen die Gabe zu deinem Unglück. Wir sind das, was man seit Jahrtausenden als Wiedergänger fürchtet. Statt zu sterben, so wie du sterben wirst, greifen wir uns frische Körper und nisten uns ein. So wie ich mich in Andrew eingenistet habe.

Die ganze Misere begann damit, dass Zöpfchen bei mir anklopfte. Anklopfen trifft es nicht genau. Zwischen uns fühlte es sich wie ein warmer Hauch an, wie ein leichter Kuss. Ich lag im Bett und schlief den unruhigen Schlaf, der solche wie mich plagt. Ich spürte ihren sanften Druck, dann löste sie sich von mir. Ich wusste, wo ich sie finden würde. Rasch stieg ich auf und schwebte zu unserem Ort.
Zöpfchen und ich treffen uns immer dort, wo wir uns vor langer Zeit zum ersten Mal getroffen haben. Damals tobte ein Krieg. Söldner mordeten, die Pest wütete und die schlimmste Hungersnot seit der ägyptischen Plage warf halb Deutschland in ein frühes Grab. Auch ich war halb verhungert. Ich hatte einen Hund erschlagen, als Zöpfchen auftauchte. Wir teilten uns seine Leber. Zöpfchen kauerte neben mir, ihr Mund verschmiert von der blutigen Leber. Ich konnte mich nicht satt sehen. Wir mochten etwa gleichaltrig sein. Ihre zarte Haut, ihre glänzenden Augen, ihr ganzes Wesen, all das kam mir wie ein Wunder vor. Ich wusste gleich, dass ich mehr mit ihr teilen wollte. Nämlich mein Leben. Meine Leben.
Zöpfchen erwartete mich.
Wir haben keine Gestalt in diesem Zustand. Ich wusste, dass sie nicht wirklich vor mir saß, sondern Hunderte Meilen weit entfernt steif in ihrem Bett ruhte, genauso wie ich wie ein Klotz in meinem Bett lag. Trotzdem sah ich sie. Aber sehen allein genügte mir nicht. Ich wollte sie in die Arme schließen. „Das geht nicht“, behauptete sie unweigerlich. „Ich bin nicht mehr so wie früher.“ Mir war das einerlei, für mich blieb sie die schönste Frau der Welt. Aber sie ließ sich nicht erweichen.
Wir saßen uns gegenüber. „Ich fahre nach England“, sagte Zöpfchen unvermittelt. Und nach einer langen Pause: „Ich glaube nicht, dass ich zurückkehren werde.“
Ich fiel aus allen Wolken. „Warum?“, stotterte ich.
Ich spürte, wie Zöpfchen seufzte, obwohl ihr dafür der Atem fehlte. „Die übliche Geschichte“, meinte sie bloß. „Eine Hofdame verguckt sich in einen Stallburschen und muss nun dringend verreisen. Für mehrere Monate. Ausgerechnet meine Hofdame. Ich muss mit.“
Ich konnte mir vorstellen, was das bedeutete. Ein adeliges Fräulein tat keinen Streich ohne ihre Dienerschaft. Einmal hatte ich zugesehen, wie die betreffende Dame zu Bett ging. Statt sich auszuziehen, stellte sie sich mitten im Boudoir auf und hob gebieterisch die Arme. Zöpfchen musste ihre Kleider abstreifen und andere überstreifen, wobei sie ahnte, dass ich unsichtbar um sie herumschwebte. Wie die Fliege an der Wand. Zöpfchen sah sich suchend um. Vermutlich wünschte sie sich eine Klatsche. Stattdessen knuffte die Dame sie, weil es ihr zu langsam ging. Wie ihr Hoffräulein es ohne Dienerschaft zustande brachte, sich mit dem Stallburschen ins Heu zu legen, konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen.
„Nach England, hat sie entschieden“, fügte Zöpfchen hinzu. „Dort wartet sie ihre Zeit ab. Sie kennt England. Sie will auch nachher noch bleiben. Das Goldene Jubiläum. Die ganzen Herrschaften kommen zur Feier nach England. Die sind ja alle verwandt oder verschwägert.“
Falls du in Geschichte geschlafen hast: Königin Victoria hat einen Prinzen aus dem Hause Sachsen-Coburg-Gotha geheiratet. Er ist längst verstorben, während sie noch immer auf dem englischen Thron sitzt. Im nächsten Juni seit fünfzig Jahren. Ihr Goldenes Jubiläum sollte zur größten Festlichkeit aller Zeiten werden. Nicht für unsereins. Wir dürfen bloß Spalier stehen und den Hochwohlgeborenen zujubeln.
„Komm nach Hamburg. Komm zu mir. Sie wird sich halt alleine anziehen müssen.“
Zöpfchen schüttelte den Kopf. „Es geht nicht um sie, es geht um das Kind. Ich muss mich darum kümmern. Sie wird es nicht tun.“
Langsam kam mir die Galle hoch. „Kinder sind nicht gerade unsere Stärke, Zöpfchen. Kein Kind lässt sich von uns auf den Arm nehmen. Wenn du es anlächelst, beginnt es zu schreien.“
Ihren Blick werde ich so bald nicht vergessen. Mit Kindern ist es so eine Sache. Wir Springer können vermutlich keine bekommen. Und Kleinkinder reagieren auf uns ähnlich wie Tiere. Nämlich voller Furcht. Zöpfchen wusste das und litt darunter. Dass ich es ihr unter die Nase rieb, musste sie doppelt verletzen. Schweigend schauten wir aneinander vorbei.
„Und ich? Was ist mit mir?“, fragte ich in die Stille hinein.
„Wir treffen uns hier. Wie gewohnt.“ Sehr überzeugend klang es nicht. Ich wusste ja, dass sie sich wegen ihrer gegenwärtigen Hülle schämte. Dass sie glaubte, sie gefalle mir nicht. Unsinn. Abgesehen davon, dass auch ich keinen Schönheitswettbewerb gewinnen würde.
„Wann?“, fragte ich, als ich ihr Schweigen nicht mehr aushielt.
„Mitte nächster Woche fahren wir nach Hoek van Holland. Von dort mit der Princess of Wales nach England.“
Ich schmollte wie ein kleines Kind. „Tu nicht so!“, tadelte sie mich. „Nichts ändert sich. Wir treffen uns hier.“ Dann kam eine lange Pause. „Falls du noch magst.“
Als ich störrisch den Mund hielt, flüsterte sie: „Leb wohl.“ Es klang verzagt. Bevor ich antworten konnte, verschwand sie. Dabei wollte ich sie gerade fragen, wie es ihr ging. Ich wusste, dass ein böser Husten sie plagte, und dass sie sich vor der Schwindsucht fürchtete.
Zu spät. Zurück in meinem Bett, schlug ich verärgert und etwas beschämt die Augen auf. Blut tropfte mir aus der Nase, wie so oft nach einem körperlosen Ausflug. Rasch wischte ich es mit einem Tuch ab, auf das ich etwas Herzkraut geträufelt hatte. Hilft, das Blut zu stillen.
Ich hätte mich ohrfeigen können. Der einzige Mensch, der mir etwas bedeutete, verließ mich. Je näher das Morgengrauen heranrückte, desto deutlicher schälte sich heraus, dass ich Zöpfchen auf keinen Fall verlieren wollte. Und dass sie nicht alleine nach England ziehen durfte. Froh machte mich das nicht, im Gegenteil. Ich spürte nicht die geringste Lust, mein Leben zu ändern. Jeder Tag begann gleich, jeder endete gleich, in einem gemächlichen Trott. Und das sollte ich aufgeben? Um jemandem zu folgen, der mich gar nicht dabeihaben wollte?
Genau.
Zöpfchen und ich treffen uns nicht in jedem Leben. Manchmal weigert sie sich, mich zu sehen. In ihrer eigentlichen Gestalt, meine ich. So wie diesmal. Einmal im Monat, jeweils zu Vollmond, verabredeten wir uns körperlos an unserem Treffpunkt. Wenn nötig häufiger, wie diese Nacht.
Dass wir uns nicht in jedem Leben treffen, ist auch meine Schuld. Du musst etwas über uns Springer wissen. Wir kommen nicht besonders gut mit anderen Menschen aus. Wir wirken abweisend, anmaßend und kühl. Nicht ganz von ungefähr. Ein eisiger Panzer legt sich um uns, der mit jedem Leben undurchdringlicher wird. Mitgefühl? Wozu? Was gehen uns die anderen an? Wir sind unsterblich, während gewöhnliche Menschen nach einem einzigen Leben alle viere von sich strecken. Für uns Springer sind sie als Hülle gerade gut genug. Klar weiß ich, dass das falsch ist. Klar zählt jeder andere genauso viel wie ich. Zöpfchen erinnert mich daran, wenn ich hinter meinem Eispanzer verschwinde. Sie wehrt sich gegen diese Kälte. Ich tue es auch, wenn auch vor allem ihr zuliebe.
Vor gut acht Jahren mussten wir uns beide neue Mäntel suchen. Zöpfchen gab sich mit dem Körper einer Dienstmagd in Coburg zufrieden, während ich in der gleichen Stadt versuchte, den Sohn eines wohlhabenden Tuchhändlers zu übernehmen. Das lief gründlich schief. Ich hielt den Sohn für einen Schwächling. Zu meinem Schrecken wehrte er sich so entschieden, dass ich ihn nicht übernehmen konnte. Mit knapper Not rettete ich mich in einen stumpfsinnigen Burschen, der nichts ahnend in einem staubigen Lagerhaus Wurst mit Brot aß. Der Bissen blieb ihm gründlich im Hals stecken. Allerdings aß der Bursche sein Wurstbrot nicht in Coburg, in der Nähe von Zöpfchen, sondern in Hamburg. Selbst mit Bahn und Kutsche dauerte die Reise drei Tage.
Auf ihre Art erwies sich die neue Hülle als Glücksfall. Mein Meister staunte nicht schlecht, als ich plötzlich mit Eifer an die Arbeit ging. Werner Henning hieß er. Er handelte mit Gewürzen und Kräutern für die Herren Apotheker. Sein Lagerschuppen stand etwas landeinwärts vom Hafen, unweit der Gröninger Straße. So blieben die Kräuter trocken. Säcke aus aller Welt lagerten hier und von den Querbalken hingen Bündel von getrockneten Blüten. Es duftete wie im Paradies.
Wohnen durfte ich bei meinem Meister, einem unscheinbaren, älteren Herrn mit schütterem Haar und einer Ehefrau, vor der wir uns beide fürchteten. So gut wir konnten, wichen wir ihr aus.
Sein bescheidenes Heim lag in Hohenfelde, nicht in einer der protzigen Villen in Blankenese, wie bei den anderen Herren Kaufleuten. Ich schlief in einer Kammer unter dem Dach und durfte mich dreimal täglich in die warme Küche setzen. Während dem Ehemann drinnen im Speisesaal angesichts der säuerlichen Miene seiner Gattin der Appetit verging, futterte ich Essensreste, die mir die Köchin vorsetzte. Zusammen mit einem guten Stück Braten oder einer kross gebratenen Scholle, die sie vergaß, dem Paar aufzutischen. Sie ließ es sich ebenfalls schmecken, was man unschwer an den runden Backen und dem genauso runden Hintern ablesen konnte. Die Eheleute bevorzugten getrennte Schlafgemache. Nachts schlich sich der Ehemann auf die Stube der Köchin und schlief in ihren Armen ein. „Jeder verdient ein wenig Liebe“, wisperte er mir zu, als ich ihn auf seiner nächtlichen Wanderschaft ertappte. Mir konnte das egal sein. Beinahe jede Nacht hörte ich die beiden in traulicher Zweisamkeit schnarchen.
„Bei dir ist der Knopf halt spät aufgegangen“, meinte Herr Henning, als ich nach kurzer Krankheit im Lager stand und begierig die kräutergeschwängerte Luft einsog. Der Knopf spät aufgegangen, so kann man es auch nennen. Der neue Mantel passte mir. Außer dass ich Zöpfchen nicht zu sehen bekam.
Herr Henning und ich kamen gut miteinander aus. Das Ehepaar war kinderlos geblieben, und ich machte mir Hoffnung auf eine ruhige Zukunft inmitten meiner Kräuter. Und nun zog Zöpfchen nach London. Es tat mir leid, meinen Meister verlassen zu müssen. Schlimmer noch, ich musste meine Kräuter verlassen. Sie sind meine Leidenschaft. Von ihnen verstehe ich etwas und sie verstehen mich. Aber verlassen musste ich sie.
Wenige Tage danach packte ich mein Bündel. Bevor ich die Haustür hinter mir zuzog, schlich ich in den Schlafraum meines Herrn. Ich wusste ja, dass er bei der Köchin lag. Hastig klaubte ich einige Goldstücke aus seiner Geldbörse und eine Handvoll Silbermünzen. Grußlos und mit schlechtem Gewissen machte ich mich davon.
Das Wetter entsprach meiner Stimmung. Es regnete und ein spätherbstlicher Wind pfiff mir um die Ohren. Lange vor Tagesanbruch zwängte ich mich auf der Bahnstation in ein Abteil der vierten Klasse und machte mich auf eine mühselige Reise gefasst.
Der Wind blies uns die ganze Zeit entgegen, sodass der Qualm der Lokomotive in die Abteile drang. Schon nach einer Viertelstunde sahen wir aus wie Kaminfeger und im Abteil husteten wir uns qualvoll gegenseitig in die Gesichter. Die Herren räusperten ihre verrußten Hälse und spuckten ungeniert auf den Boden, während die Damen diskret ihre Taschentücher benutzten.
Der Wind blies auch noch, als wir in Hoek van Holland ankamen. Im Hafen dümpelte die Princess of Wales. Bevor ich an Bord ging, wusch ich mir am Bahnhofsbrunnen das Gesicht. Kaum drehte ich mich um, baute sich ein Schuhputzjunge vor mir auf und hielt mir ein Tuch hin, das sich vom Schmutz zahlloser Gesichter in einen gräulichen Lappen verwandelt hatte. Ich schüttelte den Kopf. Der Wind würde mein Gesicht trocken blasen, ohne dass ich dafür bezahlen musste. Das entmutigte ihn keineswegs. Er schlug zwei Bürsten gegeneinander und deutete auf mein Jackett. Offenbar wollte er es ausbürsten. Besser nicht, dachte ich. Er sah so verschlagen aus, dass ich ihm mein Sakko nicht anvertrauen wollte.
Die Überfahrt kostete mich mehr als die Hälfte meiner Barschaft. Das reichte gerade für einen Deckplatz. Gischt und Nieselregen ließen uns Deckpassagiere schlottern. Von Zöpfchen keine Spur. Ich stellte mir vor, wie sie in einer warmen Kabine der ersten Klasse saß und es sich schmecken ließ. Vielleicht auch nicht. Unruhige Wellen hasteten hin und her, ohne jede Richtung, und schleuderten den Dampfer bald nach links und bald nach rechts, bald nach vorne und bald nach hinten. Minuten nach dem letzten Heulen der Schiffssirene und dem Lichten des Ankers hingen wir über der Reling und übergaben uns in die aufgewühlte See. Wenn ich nicht gerade mitspeien musste, schlich ich mit grünem Gesicht auf dem Kahn umher, in der Hoffnung, einen Blick auf Zöpfchen zu erhaschen. Ohne Erfolg.
Die Herbststürme wüteten die ganze Zeit über. Entsprechend verlangsamte sich unsere Überfahrt. Nach unendlich langen zwölf Stunden legten wir mitten in der Nacht am Parkeston Quay bei Harwich an. Hier regnete es erst recht. Ich trug den abgelegten Wachstuchmantel meines Meisters, doch dieser Dauernässe hielt er nicht stand. Eigentlich wollte ich sogleich an Land, aber wir Deckpassagiere mussten warten, bis sich die letzten Gäste aus der ersten und zweiten Klasse die Gangway hinunter bequemten. Erst dann durften wir los. Ich packte mein Bündel und rannte zum Bahnhof der Great Eastern Railway, die Harwich mit London verband. Von dort aus würde Zöpfchen mit ihrer Herrschaft in die Hauptstadt dampfen. Zumindest nahm ich das an.
Na ja, den Rest kennst du: Zöpfchen nahm stattdessen die Kutsche und ein Kerl schnitt mir die Kehle durch.

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